Donnerstag, 6. Oktober 2011

Die 12 Geschworenen - Alles was Recht ist

© United Artists
Die Verfilmung des Rechtsgrundsatzes "In dubio pro reo". Und der Beweis, dass die Vielschichtigkeit eines Films nichts mit wechselndem Setting zu tun hat.
Tragen wir einmal die Schichten ab, um zum nackten Ergebnis zu kommen (beinhaltet SPOILER):

Die Charaktere: 

Es ist faszinierend, welche Entwicklungen diese durchmachen. Einige Beispiele:
  • Der Bankangestellte (Geschworener Nr.2), ein sehr zurückhaltender Typus Mensch, folgt zu Beginn der Masse, indem er den angeklagten für schuldig hält, ohne dies näher begründen zu können. Im Laufe der Zeit ändert er Meinung und Verhalten, wird wesentlich offensiver, argumentiert zielstrebig, kommt aus seiner Deckung.
  • Der Arbeiter (Geschworener Nr.6) ist eine schlichte Persönlichkeit, der sehr grob daherkommt, aber spätestens dann ein unerwartetes Verhalten aufweist, als er den älteren Herren verteidigt und damit seine klare Moral beweist. Auch wenn er intellektuell nicht alles nachvollziehen kann, seine Kommunikation Schwächen aufweist und er die Androhung einer Tracht Prügel für ein legitimes Mittel hält, scheint er wohlerzogen und integer.
  • Der Geschworene Nr.5, der ebenso wie der Angeklagte aus den Slums stammt, hält sich bedeckt und versucht auf diese Weise wohl, seine Herkunft zu verbergen. Diesen Vorsatz gibt er schnell auf, nachdem diskriminierende Äußerungen getätigt werden, trotzdem bleibt er auch in der Folge schweigsam und wird erst dann wieder richtig aktiv, als er Expertenwissen preisgeben kann. Er schämt sich nicht mehr ob seines sozialen Hintergrundes, sondern erkennt seine Möglichkeiten, Wertvolles beizutragen.
Diese drei stehen nur beispielhaft für die restlichen Geschworenen, die ebenso Entwicklungen durchmachen.
Nur Nr.3 und Nr.10, die härtesten Verfechter des Schuldspruchs, entwickeln sich kaum, sondern erhärten ihre Positionen bis zu einem gewissen Punkt nur.

Dies führt unweigerlich zur Analyse der Motive, die knapp für jeden der 12 Männer stattfinden soll:

Nr.1: das Motiv des Juryvorsitzenden ist nicht eindeutig. Er scheint sich an den Mehrheiten zu orientieren, ohne dass seine tatsächliche Meinung bekannt wird.

Nr.2: der Bankangestellte orientiert sich ebenso an den Majoritäten, ändert sein Urteil aber, nachdem er den Umschwung bemerkt. Im Zuge der sich verschiebenden Verhältnisse gewinnt er an Persönlichkeit, was einen zu dem Schluss bringen könnte, dass er sich der Rädelsführerschaft des Geschworenen Nr.8 anschließt, um sich zu profilieren.

Nr.3: die Motivation des renitentesten der Geschworenen klingt zwar schon recht früh an, und zwar als er davon erzählt, das sein Sohn und er seit 2 Jahren keinen Kontakt mehr hatten, doch erst ganz am Schluss wird auch deutlich, dass er diese Situation auf den vorliegenden Fall projiziert hat. Seine Schuld seinem Sohn gegenüber war seine Antriebsfeder, er wollte den Angeklagten stellvertretend für seinen Sohn büßen lassen bis er sich darüber im Klaren war, dass er selber für sein persönliches Dilemma verantwortlich ist.

Nr.4: der Börsenmakler ist ein äußerst analytischer Mensch, emotional sehr verschlossen. Diese Kaltheit wird auch durch sein, trotz brütender Hitze, fehlendes Schwitzen symbolisiert. Erst als seine Argumentation nicht mehr greift, wischt er sich einen Tropfen von der Stirn. Seine Motivation ist kühle Berechnung, er gewichtet die (scheinbaren) Fakten und fällt so sein Urteil. Als seine Rechnung irgendwann nicht mehr aufgeht, kippt er um und schließt sich der neuen Mehrheit an.

Nr.5: seine Motivlage erklärt sich aus seiner Herkunft: zu Beginn will er sich integrieren, ablenken von den Slums, aus denen er und der Angeklagte stammen, und stimmt deshalb für schuldig. Nachdem die Katze aber aus dem Sack ist ändert er seine Meinung und es entwickelt sich im Laufe der Zeit sogar ein gewisser Stolz auf diesen Background, da er dadurch Dinge kennt, die den anderen fremd sind. Assimilation als erstes Motiv wird also durch Solidarität mit seiner Schicht und dem aufkeimenden Widerstand ersetzt.

Nr.6: der einfache Arbeiter wendet sich dann der Nicht-Schuldig-Fraktion zu, nachdem ihm ein für sich selber schlüssiges Argument geliefert wurde, warum der Angeklagte u.U. unschuldig sein könnte und zwar die Lautstärke der Bahn, die er aus eigener Erfahrung einschätzen kann. Ein weiterer Grund für die Abänderung bzw. die Verfestigung der neugewonnen Meinung sind seine moralischen Grundsätze. Nachdem der alte Mann harsch angegangen wurde, erhebt sich Nr.6 und verteidigt ihn. Seine Motivation besteht also einerseits in der ihm verständlichen Argumentation, andererseits (vielleicht) in der Solidarisierung mit einer Person, der seiner Grundhaltung nach Respekt gezollt gehört.

Nr.7: der Vertreter nimmt alles nicht so ernst, ist genervt und will eigentlich schnell aus dem Beratungszimmer, um zu einem Baseballspiel zu kommen. Dies ist auch seine zu Anfang bestehende Motivation. Er ändert dann seine Meinung scheinbar motivlos, nur um die Sache zu beenden. Ob dies tatsächlich ohne Grund geschieht, ist aber zweifelhaft:
Zum einen muss sein Beruf betrachtet werden. Er verkauft Marmelade, laut eigenen Angaben recht erfolgreich. Er gibt auch seine Taktiken preis, wie er das Produkt an den Mann gibt. Es scheint so, als ob er auf gleiche Weise bei den restlichen Geschworenen vorzugehen versucht, er möchte ihnen den Schuldspruch "andrehen".
Zum anderen wäre da das Baseballspiel. So lange, wie er es noch besuchen könnte, beharrt er auf schuldig, weil er denkt, dies führe zur Beendigung der Diskussion. Nachdem es aus Eimern gießt (auch wenn er sagt, die Tribünen seien überdacht, was aber bei einem Baseballspiel nichts bringt, da der Platz trotzdem unbespielbar wäre) und ihm die Zeit davon rennt, fällt diese Motivation buchstäblich ins Wasser.
Und eines ist zudem noch auffällig: er ändert seine Meinung, nachdem die Klimaanlage wieder funktioniert, er also im wahrsten Sinne des Wortes einen kühlen Kopf hat.
Seine Motivation ist also nicht eindeutig, aber es gilt zu vermuten, dass sie nicht so einfach ist, wie angenommen.

Nr.8: folgt später.

Nr.9: der ältere Herr wird von vielen nicht ernstgenommen. Er verbündet sich als erster mit Nr.8, weil er sein Ansinnen respektiert. Seine Motivation scheint vielschichtig: offenbar ist seine Grundüberzeugung mit der von Nr.8 deckungsgleich, auch wenn er zu Beginn nicht unbedingt von der Unschuld des angeklagten Jungen überzeugt ist. Nr.9 stützt sich auf seine Erfahrung, fühlt sich auch von Nr.8 respektiert und zieht daraus seine Motivation. Dies könnte aber auch bedeuten, dass er seine Meinung nur ändert, da er so Aufmerksamkeit bekommt, ähnlich dem älteren Zeugen. Nr.9 sagt ja selber, er könne wie kein anderer nachvollziehen, warum der Zeuge u.U. seine Aussage etwas ausgeschmückt hat.
Die Motive von Nr.9 könnten also von Überzeugung, Solidarität bis hin zu Aufmerksamkeitserhalt reichen.

Nr.10: warum er auf schuldig plädiert, wird am Ende ganz deutlich und findet dazwischen auch immer schon Anklänge: er ist ein Rassist und dies wird ihm dann auch vor Augen geführt.

Nr.11: der Einwanderer aus Europa kommt erst spät aus der Reserve, aber dann mit großem Elan. Er stützt seine Motive auf das amerikanische Rechtssystem. Ihm ist es heilig, obwohl oder gerade wegen seiner fremden Herkunft. Er möchte ein guter Staatsbürger sein und sich nach den Grundsätzen richten.

Nr.12: der Werbetexter wechselt seine Meinung ständig, kann seine Motivation dazu aber nicht darlegen. Konzentration ist nicht seine Stärke, er ist schnell überfordert und bringt sich auch nicht wirklich in die Diskussion ein. Der Druck der sich verändernden Mehrheiten lässt ihn umschwenken, wobei er aber auch wieder einen Rückzieher macht, den er alsbald aufs Neue revidiert. Im Grunde ist er motivloser Opportunist wie er im Buche steht.

Jetzt komme ich zu Nr.8:
Er ist zu Anfang der einzige der Geschworenen, der nicht für schuldig stimmt. Allerdings betont er auch, dass er den Angeklagten keineswegs für unschuldig hält. Seine Motivation ist auch der Rechtsgrundsatz "Im Zweifel für den Angeklagten", es sind die vielen Kleinigkeiten, die ihn stören. Dass er ihn, trotz gegenteiliger Aussagen, trotzdem für unschuldig hält, beweist seine Vorbereitung: er kaufte ein identisches Messer wie das zur Tat verwendete. Dies lässt den Schluss zu, dass er schon in eine Richtung tendiert. Sicher ist er aber nicht, was besonders deutlich wird, nachdem der Geschworene Nr.6 ihm im Waschraum die Frage stellt, was denn wäre, wenn der Junge schuldig ist. Von da an ist Nr.8 bemüht, Fakten zu sammeln, die die Unschuld wahrscheinlich machen. Er ist also keineswegs motivlos, eher erweitert sich seine Meinung um eine Facette, nämlich die Verantwortung vor dem eigenen Gewissen. Berechtigter Zweifel ist die Ausgangslage und er muss die anderen überzeugen - aber ebenso sich selber. Für ihn ist es eine reine Gewissensfrage, persönliche Motive scheint er keine zu haben. Er kann die Situation des Angeklagten verstehen, kommt aber selber aus einer höheren Schicht (dies gilt es anzunehmen, da er angibt, Architekt zu sein). Emotional ist er zurückhaltend, er wird nicht laut, nicht ausfallend und scheint vorurteilsfrei zu sein. Er ist eigentlich der einzige der Geschworenen, dem es tatsächlich nur um die Sache zu gehen scheint.

Welche Erkenntnisse kann man jetzt daraus ziehen? Wie ist dieser Film zu verstehen?

1) Man kann eine Verbeugung vor dem Rechtssystem erkennen: auch wenn der Junge schuldig sein könnte (dies wird nie geklärt!), sind die Zweifel letztlich so groß, dass er nicht zum Tode verurteilt werden kann.
2) Dieser Rechtsgrundsatz ist elementar und eine Errungenschaft der modernen Rechtssprechung.
Es ist ebenso eine Kritik am System, in dreierlei Hinsicht:
  • Als der Vorschlag gemacht wird, dem Richter mitzuteilen, dass man sich nicht einigen könne, fällt die Aussage, dass 12 andere Geschworene den Angeklagten sofort schuldig gesprochen hätten. Berechtigte Zweifel als Grundsatz hin oder her, sein Wirkungsgehalt ist immer abhängig von den Geschworenen. Anders ausgedrückt: ob die Todesstrafe verhängt wird oder nicht, ist abhängig von der Zusammensetzung der Jury.
  • Dass ein einzelner Mann elf andere Männer umstimmen kann, mag hier berechtigt sein, könnte im Zweifel aber auch andersrum laufen. Es kann ja auch so sein, dass ein Einzelkämpfer für einen Schuldspruch ist und die anderen Geschworenen überzeugt und Zweifel eliminiert. In diesem Fall würde das Jurysystem ad absurdum geführt.
  • Fast keiner der Geschworenen bezieht sein Urteil auf den vorliegenden Fall, sondern fast immer auf eine persönliche Komponente, seien es familieninterne Probleme, Vorurteile oder Aufmerksamkeitshascherei. Eine Urteilsfindung auf Grundlage individueller Motivation entspricht aber eigentlich nicht dem Sinn des Systems, sondern die Faktenlage sollte entscheiden. Schlussendlich erfolgt der Freispruch zwar auf Zweifeln, die faktisch belegt werden können, manch einer der Jurymitglieder ändert seine Meinung aber nicht deswegen, sondern aus Gründen, die keinen Einfluss haben sollten. 
3) Es ist ein klassisches David gegen Goliath - Thema. Dies kann man als Demokratiestellvertretung interpretieren: jede Meinung ist wichtig, der Einfluss des Einzelnen auf das Gesamte ist nicht zu unterschätzen, Minderheiten werden gehört, Lösungen können im Diskurs gefunden werden, die Vernunft obsiegt, der Bürger hat das Sagen. Vice versa steckt hier aber auch wieder ein kritisches Moment drin, welches sich mit der Noelle-Neumann'schen Schweigespirale erklären ließe, ohne jedoch näher darauf eingehen zu wollen.

Fazit: 

Ein beeindruckendes Werk. Wer wie Lumet einen solch vielschichtigen Film erschafft, der sich (beinahe) ausschließlich in einem Raum abspielt, ist ein Meister seines Fachs.
Ein MUSS für jeden Filmfreund!

10 von 10 Punkten

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